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Der neue Anspruch auf Pflichtverteidigerwechsel: Ende des „Anbiederungsfalls“

Von 21. September 2020September 23rd, 2020Blog

Die Kavallerie der Justiz reitet gelegentlich auch für Beschuldigte durch die Prärie. Wussten Sie nicht? Dann stellen Sie sich folgenden Fall vor:

M wird am 4. August 2020 wegen Verdachts des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln festgenommen. Sein Cousin erfährt davon, ruft abends Rechtsanwalt R an und bittet ihn darum, die Verteidigung zu übernehmen. R kann den M aufgrund seiner Terminslage weder im Polizeigewahrsam aufsuchen, noch an der am Folgetag stattfindenden Haftbefehlseröffnung teilnehmen.

M, der zu diesem Zeitpunkt von R noch nichts weiß, wünscht nach Belehrung durch die Polizei den Beistand eines Verteidigers und benennt Rechtsanwalt G, den die Polizei telefonisch kontaktiert. Bei der Vorführung vor dem Haftrichter am Folgetag erscheint jedoch nicht Rechtsanwalt G, sondern die bei G angestellte Rechtsanwältin K, die sich ohne weitere Rücksprache mit M zur Pflichtverteidigerin bestellen lässt. Rechtsanwalt R hatte noch vor der Haftbefehlseröffnung bei der Staatsanwaltschaft per Telefax die Erteilung einer Einzelbesuchserlaubnis zum Zwecke der Mandatsanbahnung beantragt und mitgeteilt, dass der Cousin des M ihn darum gebeten habe, die Verteidigung zu übernehmen.

Die Staatsanwaltschaft reagiert bis zum 6. August nicht auf das Telefax. Rechtsanwalt R setzt sich daraufhin telefonisch mit der zuständigen Staatsanwältin in Verbindung, die ihm mitteilt, sie benötige zur Entscheidung über seinen Antrag die Akte, die sich jedoch noch beim Haftrichter befinde. R ruft am nächsten Tag bei der Geschäftsstelle des Haftrichters an und erfährt dort, dass die Akte schon vor Tagen an die Staatsanwaltschaft zurückgeschickt worden ist.

Am 10. August erfährt R auf erneute telefonische Nachfrage bei der Staatsanwaltschaft, dass die Akte mittlerweile dort eingegangen sei, die Bearbeitung des Antrags jedoch „einige Tage“ in Anspruch nehme.

Als bis zum 15. August 2020 weder die beantragte Besuchserlaubnis eingegangen, noch eine sonstige Reaktion der Staatsanwaltschaft zu verzeichnen ist, erinnert R mit weiterem Telefax an die Erledigung seines Antrags und droht für den Fall weiterer Verschleppung eine Dienstaufsichtsbeschwerde an.

Mit Telefax vom 17. August 2020 teilt die Staatsanwaltschaft dem R nachrichtlich mit, dass sie den inhaftierten M brieflich darum gebeten habe, mitzuteilen, ob er von Rechtsanwalt R als Wahlverteidiger verteidigt werden wolle; ihm sei auf seinen Antrag Rechtsanwalt U beigeordnet worden (was nicht zutrifft). Am Folgetag korrigiert die Staatsanwaltschaft ihr Anschreiben an den M und verweist nunmehr auf die erfolgte Beiordnung von Rechtsanwältin K.

Rechtsanwalt R nimmt daraufhin Kontakt zum Sozialdienst der JVA auf, übermittelt per eMail das Anschreiben der Staatsanwaltschaft und bittet die zuständige Sozialarbeiterin darum, M über den Besuchswunsch seines Cousins zu informieren und um Abgabe der von der Staatsanwaltschaft angeforderten Erklärung zu bitten. M erklärt daraufhin schriftlich, er wolle von R verteidigt werden; die Sozialarbeiterin übersendet die Erklärung samt einer von M unterschriebenen Vollmachtsurkunde per eMail an R. dieser übermittelt die Erklärung noch am selben Tag an die Staatsanwaltschaft, die daraufhin die beantragte Einzelbesuchserlaubnis (für einen überwachten Besuch!) erteilt.

Die Besuchserlaubnis geht am 24. August 2020 per Fax bei R ein. R sucht M am 25. in der JVA auf, lässt sich von ihm bevollmächtigen und damit beauftragen, einen Pflichtverteidigerwechsel zu beantragen. Den Antrag stellt R wegen drohender Verfristung (die Dreiwochenfrist des § 143a Abs. 2 Nr. 1 StPO läuft am 25. ab) unmittelbar im Anschluss an den Haftbesuch. Rechtsanwältin K wird daraufhin entpflichtet und R wird dem M als neuer Pflichtverteidiger beigeordnet.

An diesem (reellen!) Fall, der in dieser Ausführlichkeit berichtet werden muss, ist manches bemerkenswert. Beginnen wir mit der auf den ersten Blick fürsorglich erscheinenden Nachfrage der Staatsanwaltschaft beim Inhaftierten, ob dieser überhaupt von dem Verteidiger in spe R besucht werden will.

Wurde einem Inhaftierten ein Pflichtverteidiger bestellt und beantragt ein weiterer Rechtsanwalt die Erteilung einer Besuchserlaubnis, so verweigern manche Staatsanwaltschaften  deren Erteilung unter Hinweis auf die Pflichtverteidigerbestellung. Andere Staatsanwaltschaften fragen beim Beschuldigten nach, ob er Besuch von dem (neuen) Rechtsanwalt wünscht. Die Fallkonstellation eines Besuchswunschs durch Dritte wird in der Justiz gelegentlich abwertend als „Anbiederungsfall“ bezeichnet. Vielfach wird von den Staatsanwaltschaften dabei auf eine Entscheidung des OLG Hamm aus dem Jahr 2010 Bezug genommen. In dieser Entscheidung (Az. 3 Ws 504/09, StV 2010, 586)  hat das OLG ausgeführt, § 148 StPO setze ein bestehendes Verteidigungsverhältnis voraus, sodass ein Anspruch auf Erteilung einer Besuchserlaubnis nach dieser Vorschrift ausscheide, wenn ein solches Verhältnis (noch) nicht begründet worden sei. Dies gelte, wenn der Beschuldigte selbst einen Verteidigerbesuch zum Zwecke der Anbahnung wünsche und erst recht, wenn der Besuchswunsch von Dritten ausgehe.

Die Entscheidung des OLG Hamm ist vielfach auf Kritik gestoßen (überzeugend Bung StV 2010 586; vgl. i. ü. MüKo-Thomas/Kämpfer § 148 StPO Rz. 8 mwN). Dass § 148 Abs. 1 StPO vom Verkehr „mit dem Verteidiger“ spricht, zwingt nur bei einer rein grammatikalischen (und damit zu engen) Auslegung der Norm zu der Interpretation, dass Mandatierung oder Bestellung als bereits geschehen vorausgesetzt werden. Legt man § 148 Abs. 1 StPO hingegen teleologisch aus, so ergibt sich, dass auch Anbahnungs- und sogar klassische „Anbiederungsfälle“ erfasst sein müssen, da ansonsten das Recht des Beschuldigten auf freie Verteidigerwahl und sein Vorschlagsrecht hinsichtlich des zu bestellenden Verteidigers von vornherein leerlaufen würden (so auch König StV 2011, 704 unter Hinweis auf Hassemer StV 1985, 405). Generell fragt sich ohnehin, warum der inhaftierte Beschuldigte vor Verteidigerbesuchen „beschützt“ werden muss. Zweifelhaft ist dies sogar dann, wenn der Besuchswunsch des potentiellen Verteidigers von diesem selbst ausgeht, also im klassischen „Anbiederungsfall“. Dass dem Beschuldigten bereits ein Pflichtverteidiger bestellt wurde, kann insoweit jedenfalls kein taugliches Argument sein.

Die Diskussion dürfte jedoch im Hinblick auf die neue Gesetzeslage ohnehin überholt sein. § 143a Abs. 2 Nr. 1 nF StPO verschafft dem Beschuldigten nämlich nun erstmals einen Anspruch auf Wechsel des Pflichtverteidigers, wenn

  • ein anderer als der von ihm innerhalb der gesetzten Auswahlfrist benannte Verteidiger bestellt
  • oder nur eine kurze Auswahlfrist gesetzt wurde.

Über ihren Wortlaut hinaus erfasst § 143a Abs. 2 Nr. 1 nF StPO auch Fälle, in denen gar keine oder eine zu kurze Frist gesetzt wurde. Liegen die gesetzlichen Voraussetzungen vor, so kann der Beschuldigte innerhalb von drei Wochen nach Bekanntmachung der Entscheidung über die Pflichtverteidigerbestellung den Wechsel des Pflichtverteidigers beantragen. Die Schaffung der Vorschrift war überfällig und trägt insbesondere dem Umstand Rechnung, dass der Beschuldigte bei der Bezeichnung eines Verteidigers eine Entscheidung von großer Tragweite trifft, die gelegentlich auch überdacht sein will – vorausgesetzt, der Beschuldigte konnte die Entscheidung des Gerichts überhaupt beeinflussen.

Befindet sich der Beschuldigte in Haft, so trifft die Wahl eines neuen Verteidigers naturgemäß auf Schwierigkeiten. Die Führung eines Anbahnungsgesprächs bedarf der Erteilung einer Besuchserlaubnis. Die Möglichkeiten des Inhaftierten, einen Verteidiger um Besuch zu bitten, sind eingeschränkt, denn seine Kommunikationsmöglichkeiten mit der Außenwelt sind eingeschränkt. Beauftragen Familienangehörige oder Freunde einen Verteidiger damit, den Beschuldigten in der Haft aufzusuchen, so wird die Staatsanwaltschaft nunmehr bereits im Hinblick auf die geltende Gesetzeslage dazu verpflichtet sein, die beantragte Besuchserlaubnis sogleich zu erteilen, um dem Beschuldigten die Wahl eines neuen Verteidigers (und einen fristgerecht angebrachten Antrag auf Pflichtverteidigerwechsel) zu ermöglichen. Selbst dann, wenn der Verteidiger aus eigener Initiative die Erteilung einer Besuchserlaubnis beantragt, kann nichts anderes gelten.

Das Hinauszögern der Erteilung einer Besuchserlaubnis zum Zwecke der Mandatsanbahnung durch die Staatsanwaltschaft (der nächste bemerkenswerte Aspekt im Beispielfall) ist in jedem Fall rechtswidrig und sollte in geeigneten Fällen von Verteidigern in der gebotenen Weise moniert werden, zumal dann, wenn (wie in dem oben ausführlich geschilderten Beispiel) die Verzögerung ersichtlich dem Zweck dient, die Antragsmöglichkeit für den Beschuldigten verfristen zu lassen. Kann der Antrag aufgrund der verzögerten Erteilung der Besuchserlaubnis nur nach Ablauf der Dreiwochenfrist gestellt werden, so dürfte dies im Übrigen die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen unverschuldeter Fristversäumung rechtfertigen.

Verzögerungstaktiken bei der Erteilung eines Sprechscheins für Verteidiger dienen nur vorgeblich dem Schutz des Beschuldigten, in Wirklichkeit werden seine Rechte dadurch beschnitten, was auch der Zweck der Übung sein dürfte. Dies ist bereits im Grundsatz nicht hinzunehmen und nach der StPO-Reform Ende 2019 auch rechtlich nicht mehr vertretbar. Böswilligen Staatsanwaltschaften ist nachdrücklich Einhalt zu gebieten – wie es anders geht, zeigen örtliche Übereinkünfte zwischen Staatsanwaltschaften und Verteidigern hinsichtlich der Erteilung von Besuchserlaubnissen, wie diese dem Vernehmen nach etwa in München und in Berlin getroffen wurden.

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